Die Geschichte der kleinen Razia


Im Februar 2017 besuchte ich die Menschen im Slum unter einer Autobahnbrücke. In Kalkutta gibt es ca. 3.000 Slums und unzählige Brücken. In den Slums werden Kinder ohne Geburtsurkunde geboren. Identitäten sind ungeklärt. Es gibt ganze Generationen Namenloser ohne Rechte.

Hier unter einer Autobahnbrücke lebt auch die kleine Razia mit ihrer Familie. Mama Janara, Großmutter Gieta und den drei Schwestern, Niha, Tuturi und Resma. Ein Brückenpfeiler bildet die Rückwand ihres Plastikverschlages.

Hier wurde mir Razia als Baby, mit einer unübersehbaren Lippen- Gaumen- Rachenspalte, gezeigt. Das genaue Geburtsdatum konnte mir niemand sagen. Ich denke die Kleine war damals ein halbes Jahr alt.

Unter den Eindrücken ihres familiären Umfeldes und der medizinischen Notwendigkeit einer Rekonstruktion ihres Gendefekts, war mir schnell klar, dass dieses kleine Mädchen meine Hilfe benötigt.

Für eine Operation war es noch viel zu früh, aber ich wusste, wenn Razia überleben will, muss eine Operation erfolgen. In diesem Zustand ist die Nahrungsaufnahme äußerst schwierig und das Sprechen unmöglich.

Ein Jahr später, war ich wieder in Kalkutta und mein erster Weg war zu den Menschen unter der Brücke. Razia konnte laufen und blickte mich ängstlich an. Ich stellte sie zum ersten Mal einem Gesichtschirurgen vor. Eine Operation war nicht möglich, da ihre Blutwerte erschreckend schlecht waren. Vom Arzt wurden ihr Nahrungsergänzungsmittel sowie Vitamine und Eisentropfen verordnet.

Im Jahr 2019 fuhr ich erneut mit Razia und ihrer Mutter zum Bluttest und zum Kinderarzt. Die Kleine hatte zwar bessere Blutwerte, jedoch war sie nach wie vor unterernährt. Ihr Körpergewicht war in keiner Weise ausreichend für eine Operation.

Enttäuscht brachte ich das Kind zur Brücke zurück. Aber niemand von der Familie konnte meine Enttäuschung teilen. Es schien als seien alle froh über diesen Zustand. Erklärend muss ich sagen, dass dieses kleine Mädchen aufgrund ihres Aussehens die Einnahmequelle für der Familie ist. Abwechselnd gehen Oma, Mama oder die große Schwester mit ihr betteln. Ich würde also der Familie diese Einnahmequelle entziehen. Mir wurde schnell klar, dass wir deshalb die Familie nach der Operation weiter unterstützen müssen um nachhaltig dem Mädchen und der Familie zu helfen.

Dieses Jahr im Februar fuhr ich erneut zu der Familie unter der Brücke. Die Familie begleitete Razia, Heather Rixon und mich zum Krankenhaus, um die Kleine erneut einem Checkup zu unterziehen. Endlich war es soweit, dass die Kleine in einem Zustand war in dem die erste Operation durchgeführt werden konnte. In diesem Jahr konnte die Lippe geschlossen werden und es kommen noch zwei weitere Operationen. Im nächsten Jahr wird die Lippe zurück über den Oberkiefer gezogen und wiederum ein Jahr danach erfolgt die Schließung des Gaumens. Schlucken, Luft holen, schmecken und all die alltäglichen Dinge die unser Leben mit allen Sinnen noch lebenswerter machen, werden dann das Leben der kleinen Razia maßgeblich verändern. Ein gesundes Mädchen unter der Brücke bleibt. Einer von vielen kleinen Schritten ist gemacht…

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Gangnapur, 80 Kilometer nördlich von Kalkutta